Thomas Gehle
Thomas Gehle war mehr als 30 Jahre eng mit der Stage School Hamburg verbunden. Seit 1990 war er anteiliger Gesellschafter und Geschäftsführer, seit 2012 leitete er sie als geschäftsführender Gesellschafter allein. Nach mehreren gesundheitlichen Warnschüssen verkaufte er die Schule 2022.
Gehle ist außerdem Inhaber des First Stage Theaters in Hamburg. Er kennt die Bühnenwelt aus verschiedenen Blickwinkeln und hat zudem jahrelange Erfahrung als Unternehmer. Mehr als ein Grund also, ihn für unsere Reihe zu interviewen!
Thomas Gehle ist gerade für ein paar Wochen in Hamburg, die meiste Zeit verbringt er inzwischen in wärmeren Gefilden. Bei unserem Gespräch ist es auf den Tag genau ein Jahr her, dass er die Stage School offiziell an seinen Nachfolger Dennis Schulze verkauft hat. Zwei Tage vor unserem Termin hat er in Hamburg eine große Party veranstaltet. „Ein Dankeschön an die vielen Menschen, die mich die letzten 30 Jahre begleitet haben.“
„Musical-Darsteller müssen nicht unbedingt schön sein, aber sie müssen Können, Ausstrahlung, Power und Leidenschaft mitbringen“
Wir sitzen im Foyer des First Stage Theaters. Ein kurzer Versuch unser Gespräch im Freien zu führen, wurde durch den Hamburger Regen zunichte gemacht. Man merkt, wie sehr sein Herz noch immer für sein Theater und auch für die Stage School schlägt. „Durch das eigene Theater haben die Schüler die Möglichkeit bis zum Ausbildungsende teilweise bis zu 200-mal auf der Bühne zu stehen. Da ist der Stresstest quasi schon durch und sie stellen nicht erst im ersten Engagement nach ihrem Abschluss fest, dass sie dem Bühnen-Alltag mit bis zu 8 Shows die Woche physisch oder mental nicht gewachsen sind.“ Und schon sind wir mittendrin im Thema. „Eine Zunahme von psychischen Problemen bei unseren Schülern konnte ich über die Jahre nicht feststellen“. Es habe schon immer einzelne Fälle gegeben, in denen Teilnehmer aufgrund von Stress oder sonstigen psychischen Themen die Ausbildung für eine Weile unterbrechen mussten. Um vieles werde heute aber
auch weit mehr Aufhebens gemacht als früher. „Zu uns kamen Menschen, die während ihrer Zeit an der Schule feststellten, dass sie schwul sind oder dass sie lesbisch sind. Es gab welche, die als Mädchen kamen und als Junge gingen und umgekehrt. Wir hatten alles und jeder hatte ganz selbstverständlich seinen Platz bei uns.“ Heute werde vieles weit dramatischer erlebt.
Vielleicht liegt seine Einschätzung, dass es nicht mehr Fälle geworden sind, aber auch daran, dass man an der Stage School schon früh damit angefangen hat, etwas dafür zu tun. Zuerst wurde ein Vertrauenslehrer eingesetzt, der den Schülern als Ansprechpartner bei Problemen zur Verfügung stand. Dann gab es einen Tutor, einen erfahrenen Darsteller, der die Ausbildung auch selbst durchlaufen hatte und die Sorgen und Nöte angehender Darsteller kannte. Bei ihm konnte man sich an festen Tagen für einen persönlichen Gesprächstermin einbuchen. Danach, gesteht Gehle ein, sei das Thema etwas im Sande verlaufen. Seit dem letzten Jahr habe sein Nachfolger nun aber sogar ein eigenes Unterrichtsfach, „Mental Care“, eingeführt, in dem die Schüler auf das vorbereitet werden, was sie an eventuellen Herausforderungen im Bühnenalltag erwartet.
Denn natürlich sei das Business nicht immer leicht. Man müsse von Anfang an lernen, mit Ablehnung umzugehen. Müsse sich immer wieder neu beweisen. „Oft spielen bei Absagen Äußerlichkeiten eine Rolle, da der Bewerber nicht dem Typ entspricht, den man gerade sucht. Das hat mit Können häufig gar nichts zu tun.“ Dabei ginge es aus seiner Sicht auch nicht um Schönheit. „Musical-Darsteller müssen nicht unbedingt schön sein, aber sie müssen Können, Ausstrahlung, Power und Leidenschaft mitbringen“. Gewicht sei dagegen immer noch ein Thema. „Früher wurden die Auszubildenden regelmäßig gewogen – das gibt es natürlich nicht mehr. Damit hat man Essstörungen geradezu herausgefordert.“ Dennoch stelle er fest, dass Mehrgewichtige es noch immer deutlich schwerer haben, gecastet zu werden. Gerade im Musical-Bereich sei es leider so, dass es nur wenige passende Rollen gibt. Das führe dann teilweise zu einem Teufelskreis: „Die Darstellenden sind enttäuscht, dass sie kein Engagement finden, weil sie zu kräftig sind und essen dann womöglich noch mehr, um diese Enttäuschung zu kompensieren.“ In solchen Fällen könnten die Rahmenbedingungen des Jobs durchaus zur Belastung werden und zu psychischen Problemen führen.
„Ich konnte morgens einfach nicht mehr aufstehen“
Aber welche Erfahrungen hat der „Hans Dampf in allen Gassen“ Gehle ganz persönlich gemacht? Zum Termin bringt er sich ein Mittagessen „to go“ vom Restaurant um die Ecke mit. „Früher war das mein normaler Alltag“, erzählt er. Mal eben zwischendrin schnell irgendetwas essen, Hektik, Stress, Termine. Er habe das viele Jahre gar nicht gemerkt, was er da eigentlich tue. „Es ist unglaublich, was man seinem Körper über die Jahre alles zumutet und wie lange er das aushalten kann“. Der Erfolg habe für ihn alle Anzeichen physischer und psychischer Erschöpfung überdeckt. „Es hat mir ja Spaß gemacht und ich wusste, wofür ich so hart arbeite“. Es war nicht nur die Schule, die viel Engagement verlangte. Sechs Fitness-Studios, mehrere Wohnungen, die man für Schüler angemietet hatte, eine an die Schule angeschlossene Event-Agentur und seit 2016 auch das Theater ließen kaum Luft zum Atmen. Der ursprüngliche Gründer der Schule, Volker Ullmann, hatte auch ein Tanzstudio. „Dort haben wir irgendwann ein paar Fitnessgeräte reingestellt, damit die Schüler trainieren können.“ Mit dem Andrang – auch von Nicht-Schülern – hatten sie nicht gerechnet. „Irgendwie wuchsen wir immer weiter und hatten am Ende sechs Studios“. Auch sie hat er inzwischen verkauft. Die Agentur entstand aus einer Zusammenarbeit mit der Agentur für Arbeit. „Früher durfte nur die AfA Stellen vermitteln. Wir haben dann eine ‚Lizenz zur Vermittlung von Arbeitnehmern‘ bekommen und haben die damalige ‚Stars unlimited‘ gegründet. Heute heißt sie Stage School Events und gehört wie die Schule Dennis Schulze.
So viele verschiedene Bälle in der Luft zu halten forderte seinen Tribut. Irgendwann wehrte sich der Körper. Der gewohnte Macher musste sich einer Krebsoperation unterziehen. Danach hatte er zwei Jahre hintereinander massive Probleme. „Es passierte beide Male direkt vor unserer Weihnachtsshow. Ich konnte morgens einfach nicht mehr aufstehen, konnte abends nicht ins Theater. Nach dem ersten Mal hangelte er sich noch irgendwie bis zu seinem kurz danach anstehenden Urlaub durch und kehrte etwas erholter zurück. Im nächsten Jahr passierte es wieder. „Von da an flog ich einmal im Monat nach Gran Canaria, um immer wieder kurz runterzukommen“. Die Symptome wurden kurzzeitig besser. Dennis Schulze, einst selbst Schüler an der Stage School, arbeitete zu der Zeit bereits im Management mit. Ein weiterer Warnschuss war ein schwerer Hörsturz, der mit Infusionen behandelt wurde.
„Da hat es dann Klick gemacht“
Corona verbesserte den Stresslevel nicht. Die Schule musste zunächst für einige Wochen schließen. Unter strengen Auflagen konnte man dann wieder öffnen. „Aber wir durften die Schüler nur noch jahrgangsweise reinlassen und mussten in festen Klassen unterrichten.“ Das war eine große Umstellung, da vorher nach Leistungsstufen unterrichtet wurden. „Die Auszubildenden konnten in einem Fach sehr gut, im anderen vielleicht nicht genauso talentiert sein und waren in einzelnen Fächern somit mit unterschiedlichen Menschen in einer Leistungsstufe.“ Das Konzept musste also kurzfristig angepasst werden, damit der Betrieb weiterlaufen konnte. „Während wir froh waren, eine Lösung gefunden zu haben und irgendwie weitermachen zu können, erhielten wir ein Schreiben von einem Anwalt. Ein Vater drohte, uns zu verklagen, wenn wir nicht die Inhalte des Lehrplans erfüllen. Dieses Schreiben bekamen wir anschließend im gleichen Wortlaut von sage und schreibe 40 Schülerinnen und Schülern.“ Auch wenn viele dies, wie der damalige Geschäftsführer erzählt, im persönlichen Gespräch bereuten und da irgendwie reingeschlittert waren: Für ihn war das Vertrauensverhältnis danach zerrüttet. „Ich habe meinen Job immer aus Leidenschaft gemacht, habe die Schüler als meine Kinder angesehen“. 20 Schüler verließen die Schule, den verbleibenden 20 habe er versucht in der Folgezeit aus dem Weg zu gehen. Zu tief saß die Enttäuschung. Corona habe ihm diese Zeit letztlich erleichtert, „da alle eine Maske trugen. Man hat nicht mehr alle gleich erkannt“. Zu den neuen Schülern habe er dann gar nicht mehr erst eine Beziehung aufgebaut. Rückblickend beurteile er die Situation etwas anders. „Ich war zu dem Zeitpunkt schon sehr dünnhäutig. Zehn Jahre früher hätte ich in einer solchen Situation sicher souveräner reagiert, aber meine Nerven lagen da schon ganz schön blank“, erklärt er die aus seiner heutigen Sicht „doch etwas übertriebene“ Reaktion.
Im März 2021 war er auf dem Weg zur Arbeit, als er merkte, dass etwas nicht stimmt. Er fuhr direkt zu seinem Arzt, ließ zwischendrin aus Angst vor einem Unfall das Auto stehen und lief zu Fuß weiter. Der Tag endete mit der Diagnose Herzinfarkt und dem Einsetzen von drei Stents. Trotzdem wollte er das Krankenhaus so schnell wie möglich wieder verlassen, weil er einen Flug nach Gran Canaria gebucht hatte. „Am Tag meiner Entlassung bekam ich die Nachricht, dass eine gute Freundin an einem Herzinfarkt gestorben war. Da hat es dann Klick gemacht.“ Plötzlich sei ihm klar gewesen, dass er was ändern müsse in seinem Leben.
„Der Spaß, den mir mein Job machte, war teuer erkauft“
Er habe immer gerne sein eigenes Ding gemacht. Was nicht bedeute, dass er beratungsresistent gewesen sei. Er habe sich intensiv mit seinen Mitarbeitern ausgetauscht und auch Wert auf deren Meinung und Erfahrung gelegt. „Aber zu diesem Zeitpunkt merkte ich, dass der Spaß, den mir mein Job machte, teuer erkauft war.“
Als er auch im Privatleben plötzlich mit Panikattacken zu kämpfen hatte, beschloss er, die Schule abzugeben. „Ich war plötzlich viel sensibler für meinen Körper, viel hellhöriger und machte mir mehr Sorgen um meine Gesundheit als vorher“.
Rückblickend weiß Thomas Gehle, dass er viele Jahre Raubbau an seinem Körper und seiner Seele begangen hat. „Wir hatten lange finanzielle Probleme mit der Schule und auch wenn es immer eine Lösung gab, unterschwellig stand ich ständig unter Druck“. Zum Glück habe sich das in den letzten Jahren, insbesondere mit der Gründung des First Stage Theaters, zum Guten gewendet, so dass die Schule heute auf soliden Füßen stehe. Dennoch sagt er „man musste das Tempo einfach gehen, es gab für mich keine Alternative“. Sich selbst zu verwirklichen, sein ‚Baby‘ wachsen zu sehen und zu wissen, „dass das durch mich entstanden ist, hat mich unglaublich angespornt und motiviert.“ Da kann man schon mal ignorieren, dass man die eigenen Grenzen immer wieder übertritt. Solange, bis einem der Körper diese ganz deutlich aufzeigt.
„Heute gebe ich meinen Freunden ständig den Rat weniger zu arbeiten“
„Ich bin sehr froh und hatte großes Glück, dass meine Leute immer hinter mir standen“, sagt der 65-Jährige. Man müsse allerdings auch darüber reden und nicht hinter dem Berg halten, wenn es einem nicht gut geht. Nur wenn die anderen wissen, wie es um einen stehe, könne man mit Unterstützung rechnen. Seine Mitarbeiter hätten ihn in den letzten Jahren öfter mal nach Hause geschickt.
Heute genießt er es „einfach rumzuhängen und was zu lesen“. Die körperlichen Symptome seien weitestgehend abgeklungen. „Ich habe immer noch Zweifel, ob ich das alles verdient habe, verdient habe, dass es mir so gut geht.“ Wer aber nun glaubt, er würde sich komplett zur Ruhe setzen, der irrt. „Ich habe noch so viele Ideen, was ich gerne machen würde. Ich sehe ein „Zu Verkaufen“-Schild an einem Gebäude und sofort habe ich eine Vision, was dort entstehen könnte“. Dennoch ist er sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. „Heute laufe ich rum und gebe meinen Freunden ständig den Rat weniger zu arbeiten“. (mak)
Danke, Thomas Gehle, für den Einblick in Ihr spannendes Leben und die Offenheit.
Mental Health Tipp:
Das Burnout-Syndrom entsteht häufig dann, wenn Menschen, die für etwas brennen und die ihre eigenen Grenzen kontinuierlich übergehen, zusätzlich mit einem Konflikt zu kämpfen haben. Zum Beispiel der engagierte Mitarbeiter, der aber Probleme mit seinem Chef hat. Da Burnout-gefährdete Menschen in der Regel eine gewisse Persönlichkeitsstruktur aufweisen und das, was sie tun, gerne machen, nehmen sie die Anzeichen ihrer Erschöpfung oft nicht wahr. Erst wenn der Körper immer deutlicher auf sich aufmerksam macht oder das Umfeld deutliche Wesensver-änderungen zurückspiegelt, sehen sie Handlungsbedarf. Das Burnout-Syndrom weist viele Parallelen zu einer Depression auf und wird daher auch ähnlich behandelt. Entspannung, Resilienz-Training und Ressourcenarbeit sind dabei wichtige Elemente.
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